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1. Die Geschichte der Kriminalistik

Dem Verbrechen auf der Spur -     200 Jahre Kriminalgeschichte

Eine Reportage von SPIEGEL.TV zu 200 Jahren Geschichte der Kriminalistik

       

Der erste Bulle

Ernst August Ferdinand Gennat war Beamter der Berliner Kriminalpolizei. Mehr als 30 Jahre lang arbeitete er unter drei politischen Systemen als einer der begabtesten und erfolgreichsten Kriminalisten Deutschlands. Gennat gründete 1926 die erste Mordkommission Deutschlands mit Sitz in Berlin und revolutionierte mit seinen Ermittlungsmethoden die Kriminalistik. Die Sat1 Dokumentation zeigt, wie Gennat die moderne Polizeiarbeit erfand.

 
Dem Verbrechen auf der Spur - 200 Jahre Kriminalgeschichte SPIEGEL.TV   Gennat_Link.png 
  • die Kriminalistik als eigenständige Wissenschaft hat sich erst relativ spät entwickelt und ist somit in ihren Anfängen die Geschichte der Strafverfolgung
  • Kriminalistik ist immer abhängig von der Entwicklung des Verbrechens (allg. Verbrechensbegriff!) und vom sozialen Gefüge einer Gesellschaftsordnung
  • die Bekämpfung des Verbrechens war in den frühen Gesellschaftsordnungen immer im Interesse der jeweils Herrschenden, diese bestimmten willkürlich, was Recht ist und wie Rechtsbrüche geahndet werden
  • Recht war in früheren Gesellschaften immer mit Religion verflochten, Verhaltensnormen oder Rechtsverordnungen waren „von Gott gegeben“ (z.B. 10 Gebote), Macht wurde „von Gottes Gnaden“ ausgeübt; es gab keine Gleichheit vor dem Gesetz
  • das Recht im Mittelalter war noch überwiegend von Willkür, Gewalt, Folter, sog. „Gottesurteilen“ und dem Prinzip des „Eigenbekenntnis“ (Geständnis) geprägt, Kriege und Notzeiten brachte neue Verbrechensformen hervor
  • die Aufklärung und Ahndung von Verbrechen wurde in höher entwickelten Gesellschaftsordnungen  ab dem Spätmittelalter zu einem gesamtgesellschaftlichen Interesse  (Kriege, Kreuzzüge, Raubritter)
  • die zunehmende Spezialisierung der Lebensweise und die Herausbildung von Ständen und Klassen machten die Schaffung von allgemeinverbindliche Rechtsnormen (Gesetze) und erste Strafverfolgungsinstanzen (Gerichte) erforderlich, die jedoch vorwiegend dem Machterhalt der jeweils Herrschenden dienten (z.B. Standesgesetze, Majestätsbeleidigung, usw.), es erfolgte eine Hinwendung zum Beweis (Zeugenbeweis, Tatsachenbeweis, Spurenuntersuchung, Augenscheinnahme)
  • mit dem Zeitalter der Aufklärung und der Anerkennung allgemeingültiger Menschenrechte ab dem 18. Jahrhundert, mit der Weiterentwicklung der Gesellschaft und der Bildung von Staaten sowie mit der Entstehung neuer Formen  des Verbrechens erfolgte eine Spezialisierung der gesetzlichen Normen (Strafgesetze, Strafprozessgesetze), eine Verselbständigung der Strafverfolgungsinstanzen bis zur Kriminalpolizei und eine Entwicklung der Strafuntersuchungswissenschaften zur Kriminalistik
  • in den modernen Demokratien gibt es klar definierte Strafgesetze und Verfahrensvorschriften sowie demokratisch legitimierte Ausführungsorgane (Gewaltenteilung: Legislative, Exekutive, Judikative) sowie kriminalistische Forschung und Lehre

2. kurzer historischer Überblick über die Anfänge kriminalistischen Denkens

  • in der Urgesellschaft galt das „Recht des Stärkeren“, ähnlich wie im Tierreich; Konflikte um Besitz (Nahrung, Kleidung, Werkzeug) oder um die Rangordnung wurden gewaltsam ausgetragen
  • frühe Häuptlings- und Königreiche schufen erste zentrale gerichtliche Instanzen, die autoritär entschieden, mystische und magische Aufhellung von Missetaten (Orakel und Rituale, Schamanen, Medizinmänner), aber auch durch Verhandlung/Schlichtung („Palaver“)
  • in den frühen, stark religiösen Gesellschaftsordnungen erfolgte die Verklärung des Verbrechens als Erbsünde, also eine dem Menschen angeborene Verderbnis und Lust zum Bösen, die immer auch als Verstoß gegen Gebote der Gottheit geahndet wurde (erste Verhaltensregeln „Die 10 Gebote“, die nach und nach immer weiter im Sinne religiöser Gebote oder Verbote zu rechtlichen Verhaltensnormen erweitert wurden),  Recht, Moral und Religion bildeten eine Einheit, das Verbrechen war Sünde und der Priester der Richter (daher Beichte und Absolution); die Macht war „gottgegeben“ und Auflehnung dagegen war Sünde („versündige Dich nicht!“)
  • im Altertum Herausbildung unterschiedlicher Rechtsauffassungen im sumerischen, babylonischen, assyrischen, ptolemäischen, hebräischen, römischen und byzantinischen Recht, deren Grundsätze z.T. sehr fortschrittlich waren und bis ins heutige moderne Strafrecht wirken z.B.
  •  „Nullum crimen, nulla poena sine lege scripta“  kein Verbrechen, keine Strafe ohne geschriebenes Gesetz - W’sp. in den §§ 1, 2 StGB
  •  „in dubio pro reo“  im Zweifel zugunsten des Angeklagten
  • „ne bis in idem“ keine doppelte Strafverfolgung
  • im römischen Recht das „Forum“ als Gerichtsstätte
  • auch Zeugenbeweis und Eid waren hier schon bekannt
  • detaillierte Personenbeschreibungen entlaufener Sklaven
  • Nutzung von Fingerabdrücken auf Urkunden zu Identifizierungszwecken in China
  • im alten Ägypten funktionierender Rechtsstaat mit Gesetzen, Beamten, usw.
  • im Mittelalter  Hinwendung zum Eigenbekenntnis (Geständnis); Territion (Abschreckung) und Tortur (Folter) als Mittel zur Geständniserlangung;  Ordalien (Gottesurteile)  wie z.B. gerichtlicher Zweikampf, Probe im siedenden oder kalten Wasser, Kreuzprobe, Feuer- oder Eisenprobe, Bahrprobe; Glaube an göttliche Autorität, die keines irdischen Beweises bedurfte;
  • Der Zeugenbeweis galt nicht, bestimmte Personen (z.B. Frauen) waren vom Zeugnis sogar ausgeschlossen
  • aber auch Anfänge vernunftmäßiger Wahrheitsfindung und formalgesetzliche Beweisregeln,
  • z.B. in Deutschland: Sachsenspiegel“ um 1226 mit allgemein anerkannten Rechtsnormen,
  • z.B. Constitutio Criminalis Carolina, die peinliche Halsgerichtsordnung KARLS d. V. von 1532, die neben der Folter auch den Zeugenbeweis, die Gegenüberstellung und den Eid zuließ;
  • Konfliktlösungen bei einfachen Verletzungs- und Eigentumsdelikten oder „Ehrbeschädigungen“ waren Privatsache (Fehde, Sühnevertrag, Bußleistung), bei schweren Verbrechen waren Selbstjustiz, Blutrache und Lynchmorde an der Tagesordnung, Anwendung "spiegelnder" Strafen („Auge um Auge, Zahn um Zahn“)
  • ähnliche schriftliche Fassungen von Gewohnheitsrecht in Spanien, Frankreich und England
  • die Rechtssetzung erfolgte durch die territorialen Herrscher (Könige, Fürsten, Grafen, Herzöge; „Kleinstaaterei“), sie bedienten sich spezieller Bediensteter zur Durchsetzung ihrer Ansprüche (Voigte, Friedensrichter, Schultheiß bzw. Dorfschulze) z.B. in England ab 1361 Friedensrichter, 1370 Bildung des Secret Service als Sicherheitsdienst der Krone
  • es fehlte an einem Justizapparat im heutigen Sinne
  • durch gesellschaftliche Entwicklungen entstanden neue Verbrechensformen wie Raubritter und Freibeuter, durch die Entwicklung von Handwerk und Handel entstanden verstärkt Betrug, Diebstahl, Falschmünzerei, Bankrott, Urkundenfälschung, usw.
  • als mittel gegen Urkundenfälschung wurde die "Handfeste" eingesetzt, ein unter Dokumente gesetzter Handflächenabdruck als Beweis der Urheberschaft bzw. Echtheit ("handfester Beweis")
  • dem begegnete die klerikale Obrigkeit mit dem Inquisitionsverfahren, in dem der Richter allein und nichtöffentlich nach Aktenlage entschied, ferner gehörten dazu die Hexenprozesse (aus religiösem Fanatismus) u.ä. teilweise noch auf Aberglauben beruhende Sanktionen
  • ebenso martialisch wie die Beweisfindungsmethoden waren die Strafen: Köpfen, Vierteilen, Pfählen, Rädern, aufs Rad flechten, ertränken, Scheiterhaufen, Abhacken von Fingern, Händen, Abschneiden von Ohren, "Schlitzohr", Teeren und Federn, Schandpfahl, Schandmasken, „Geige“, etc., Brandmarkungen für Verbrecher in Österreich, Frankreich, Russland, China (teilweise bis Anfang des 20. Jhdts.!), Acht und Bann (Ausschluss aus der Gesellschaft, „vogelfrei“ = recht- und ehrlos), Exempel wurden statuiert, die Bestrafung erfolgte auf öffentlichen Richtplätzen, teilweise unter zwangsweiser Hinzuziehung der Bevölkerung, Hingerichtete blieben zur Abschreckung tage- oder wochenlang hängen
  • Rechte bestimmter Gilden, eigenes Recht an Universitäten

3. Das 18. Jahrhundert

  • 1724 Veröffentlichung eines Betrugslexikon in Coburg mit den wichtigsten modi operandi  unredlicher Handlungsweisen, Warenverfälschungen und Betrügereien (-> žRosstäuscher“) vorrangig für präventive Zwecke
  • Entwicklung von Gaunersprache (Jargon) und Gaunerzinken
  • 1769 Constitutio Criminalis Theresiana der österr. Kaiserin MARIA THERESIA (weitere Einschränkung der Folter und Einführung neuer Beweismethoden
  • allmählich setzten sich neue Untersuchungsformen durch: Augenschein an Tatorten, Aufnahme von Fuß- Schuh-  und Hufspuren, Besichtigung von Hieb- und Strichwaffen, Rekognition als Wiedererkennung von Personen und Sachen, Besichtigung und Öffnung von Leichen
  • Zeitalter der Aufklärung und Besinnung auf einfache Menschenrechte wie Leben, Freiheit und Gleichheit (MONTESQUIEU,  VOLTAIRE) , Zurückdrängung der Folter
  • noch weitgehend einfaches, auf Erfahrungswissen beruhendes Vorgehen im Einzelfall überwiegend durch die Justiz (Untersuchungsrichter)
  • allmähliche Herausbilden und Differenzierung polizeilicher Instanzen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Unruhen, überörtlich handelnder Räuberbanden, Abschaffung der Folter und der Inquisition (z.B. in Frankreich mit der Revolution 1789), Verminderung der           
  • Beweisfunktion des Geständnisses als „Krone der Beweise“, Aufwertung des Zeugenbeweises und erste Vorläufer wissenschaftlicher  Methoden zur Tatbefunderhebung, Spurenauswertung und Wahrheitsfindung vor dem Hintergrund ansteigender Kriminalität und der Notwendigkeit der zunehmenden Normierung von Tatbeständen
  •  (z.B. 1789 „Versuch einer Anweisung für Richter beim Verfahren in Criminal- und Strafsachen wider solche, welche die Wahrheit nicht gestehen wollen, in Ländern, wo die Tortur abgeschafft wurde“ durch den Rechtsgelehrten Prof. Johann Christian VON QUISTORP an der mecklenburgischen Universität:
  • Vernehmung, Untersuchung von Spuren und Wunden als Mittel zur Wahrheitsfindung, auch Indizienbeweise)
  • mit der Abschaffung der Folter im 18. Jahrhundert erfolgte die Hinwendung zur „freien Beweiswürdigung“ und stärkere Bedeutung von Sachbeweisen (durch Sachkundige, im Ergebnis der Entwicklung der Naturwissenschaften; Bader, Ärzte, Apotheker, Chemiker, Naturgelehrte, aber auch Handwerker und Gerichtsschreiber)
  • in England Entstehung des angelsächsischen Rechtssystem mit Jury und Geschworenen, dass sich in seinen Grundzügen bis heute erhalten hat; Kreuzverhör, Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten, Verbot von Zwang, Drohung oder Täuschung bei der Vernehmung
  • Gaunerliteratur als Sammlung polizeilichen Erfahrungswissens etablierte sich, bekannt geworden durch den frz. Rechtsgelehrten Francois Gayot  DE PITAVAL (20 Bände  ab 1734),
  • später Friedrich Schiller, von Feuerbach, Hitzig, Alexis, ETA Hoffmann, Prof. F.K.Kaul)

4. Das 19. Jahrhundert

  • mit dem Verzicht auf das Eigenbekenntnis als ausschließliche Grundlage für eine Verurteilung, mit der Hinwendung zum Freibeweis, Zeugenbeweis und Indizienbeweis wurden die Voraussetzungen für eine gerichtliche Untersuchungskunde geschaffen, dem Vorläufer der modernen Kriminalistik, Einflüsse neuer Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften (Medizin, Biologie, Chemie, Psychologie, etc.)
  • Übernahme der Lehre von DARWIN von der Durchsetzung des angepassten, rücksichtslosen Lebens gegenüber dem Schwachen in die Gesellschaftstheorie (Sozialdarwinismus); überleben kann danach nur die stärkste, brutalste Menschennatur
  • beginnende Entwicklung einer Strafuntersuchungskunde mit rechtlich und methodisch fundierten Methoden zur Erhebung des Tatbefundes und zum wahren Nachweis des Verbrechens
  • Durchsetzung des ausschließlichen Justizmonopols des Staates (nicht mehr der Kirche oder bestimmter Gilden, einheitliche Rechtssetzung für die sich bildenden Zentralstaaten, z.B.:
  • 01.April 1811: Cabinettsordre betreffend die Criminal-Polizei- Geschäfte  (gilt als die Geburtsstunde der deutschen Kriminalpolizei)
  • erste Strafverfolgungsbehörden wurden von ehemaligen Sträflingen geleitet (so. z.B. 1812 - 1827 die französische Sureté durch Francois Eugene VIDOCQ in Russland durch Iwan OSSIPOW); ab 1800 sind 6 Polizeibeamte dem Criminalgericht Berlin zugeordnet
  • Einführung eines neuen Strafrechts in Deutschland durch den Rechtsgelehrten und Philosophen VON FEUERBACH, Veröffentlichung seiner Schrift „Kaspar Hauser - Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen“ als Beispiel des zunehmenden Humanismus in der Strafuntersuchung, Plädoyer für logisches, methodisch- konzeptionelles Vorgehen sowie neue Methoden zur Identifizierung von Personen
  • Veröffentlichung erster schriftlicher Anweisungen für das Strafverfahren bzw. die Kriminalpraxis (BOLLEY, BAUER), zur Ermittlung des Alibis (HURLEBUSCH)
  • MITTERMAIER  veröffentlicht 1834 seine „Lehre vom Beweis“
  • Grundlage für eine neue Beweistheorie und neue Untersuchungsmethoden (Beweis durch richterlichen Augenschein, Sachverständige, Zeugenaussagen, Beschuldigtengeständnis, Indizien)
  • rasante Entwicklung der Staatsarzneikunde, später gerichtliche Medizin, aus der auch die gerichtliche Chemie (Giftkunde) und die gerichtliche Psychiatrie hervorgingen
  • Entstehung erster Strafprozessordnungen im deutschsprachigen Raum mit Regelungen zur Durchsuchung, Verhaftung Festnahme, Vernehmung, Gegenüberstellung, usw.
  • Entstehung erster zentraler Polizeiorgane speziell für die Verbrechensbekämpfung, z.B. in Frankreich die Sureté Nationale, in England 1829 die Metropolitain Police mit ihrem Dienstsitz im Scotland Yard;
  • in Deutschland ab 1830 in einigen größeren deutschen Ländern und Städten Einrichtung von Kriminalabteilungen der Polizei, z.B. 1853 in Bremen und Hamburg,
  • in England 1878 Gründung der Kriminalpolizei Criminal Investigation Department - CID
  • im Mittelpunkt der kriminalpolizeilichen Verbrechensbekämpfung stand zunächst die lokale Nachrichtensammlung und -auswertung über Straftaten und Straftäter (z.B. Verbrecheralben), mit der Zunahme überörtlicher bzw. „reisender“ Täter Veröffentlichungen und Lehrbücher für
  • die praktische Arbeit von Polizeibeamten (Charakteristiken von Straftätern, typische Begehungsweisen, Anleitungen zur Untersuchung von Spuren)
  • gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmähliche Verselbständigung der Kriminalistik als Systematik von allgemeinen konzeptionellen, taktischen und technischen Methoden; Differenzierung der Polizeibehörden in Kriminaluntersuchung für schwere Verbrechen und Polizeiuntersuchung bzw. Fiskaluntersuchung bei geringfügigen Verbrechen und Vergehen,
  • Einführung einer Kriminalstatistik
  • Begründung einer wissenschaftlichen systematischen deutschen Strafuntersuchungskunde ist Ludwig Hugo Franz VON JAGEMANN, der 1838 und 1841 ein zweibändiges Werk „Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde“veröffentlichte

 5. bedeutende Entdeckungen/Entwicklungen im 19 Jahrhundert

  • Fotografie: um 1840, DAGUERRE - Mitte des 19. Jahrhunderts erste Fotos von Tätern, Tatorten und Spuren, Einrichtung erster Fotolabore bei der Kriminalpolizei
  • Archäologie: wiss. Methoden zur Altersbestimmung von Mumien, zur Untersuchung von Textilien, Pflanzenmaterial usw., neue Verfahren der chemischen Untersuchung, der Messtechnik und Dokumentation; Entstehung naturwissenschaftlicher Institute für forensische und archäologische Untersuchungen, z.B. von Giften
  • Identifizierung: Alphonse BERTILLON, ab 1880 Chef des Identifizierungsamtes der Polizeipräfektur Paris: anthropometrisches Identifizierungsverfahren zur Wiedererkennung rückfälliger Straftäter und unbekannter Toter mittels Körpermessung und exakter Beschreibung der Physiognomie, das nach ihm Benannte System der Bertillonage wurde ab 1890 europaweit eingeführt und bildet die wissenschaftliche Grundlage der Signalementslehre und des polizeilichen Erkennungsdienstes; wurde aber weitgehend durch andere Identifizierungsverfahren abgelöst;
  • ferner entwickelt B. das dreiteilige Täterlichtbild und die metrische Fotografie zur Tatort- Rekonstruktion
  • Daktyloskopie: Anfänge im Alten China als „Unterschrift“, 1680 Beschreibung der Muster durch den ital. Anatom MALPHIGI (malphigische Schicht), 1823 Untersuchung und Einteilung verschiedener Mustertypen durch den tschech. Mediziner PURKINJE; etwa 1880 folgte die Erkenntnis, dass Fingerabdrücke unveränderlich sind und somit zur Identifizierung genutzt werden können durch den Arzt Dr. Henry FAULDS und den britischen Kolonialbeamten Sir William James HERSCHEL,  1888 entwickelte der Berliner Tierarzt Dr. Wilhelm EBER einen „Utensilienkasten für die Tatortdaktyloskopie“, der jedoch von den Behörden abgewiesen wurde, der britische Natur-forscher Sir Francis GALTON , ein Vetter von Charles Darwin, entwickelte das System der Sicherung, Auswertung und Kategorisierung von Fingerabdruckspuren weiter und legte sie einem britischen Regierungsausschuss unter Vorsitz von Sir Edward Richard HENRY vor; das daraus hervorgegangene System zur Klassifizierung wird als Galton-Henry- System bezeichnet und wurde schnell in Europa und Amerika eingeführt, es wurden bald Systeme zum automatisierten Vergleich geschaffen
  • in Deutschland wurde die Einführung der Daktyloskopie 1903 maßgeblich durch den Polizeipräsidenten KÖTTIG in Dresden vorangebracht, maßgebliche Verdienste bei deren Weiterentwicklung erwarb sich der spätere Leiter des Dresdener Erkennungsdienstes, Robert HEINDL
  • zentrale Gesetzgebung
  • zahlreiche landesrechtliche Regelungen (Kleinstaaterei) wurden mit der Bildung des Deutschen Reiches 1871 abgelöst durch zentrale Gesetze:
  • Strafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 und Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877
  • Entwicklung der Kriminalistik als Wissenschaft
  • 1886: durch den Berliner Strafrechtler Franz VON LISZT (1851 -  1919) wird der Begriff „Kriminalistik“ eingeführt, jedoch noch undifferenziert für die „gesamte Strafrechtswissenschaft“ gebraucht, er ist auch maßgeblich an der Bildung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung  im Jahre1888 beteiligt
  • 1893: durch den österreichischen Juristen Prof. Dr. Hans GROSS (1847 - 1915) wurde der vorhandene untersuchungskundliche Erkenntnisstand in seinem Buch „Handbuch für den Untersuchungsrichter“zusammengefasst und ab 1898 der Begriff „Kriminalistik“verwendet; durch seine Forschungstätigkeit, u.a. zur Vernehmungs- und Aussagepsychologie, und seine wissenschaftlichen Publikationen wurde er zum Begründer der modernen wissenschaftlichen Kriminalistik
  • 1898 erschien das erste kriminalwissenschaftliche Periodikum „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“, ab 1916 bis heute„Archiv für Kriminologie“

6. Das 20. Jahrhundert

  • zu Beginn des 20. Jahrhunderts komplexe kriminalwissenschaftliche Untersuchungen, Entwicklung der forensischen Wissenschaften einschließlich der wissenschaftlichen Kriminalistik, teilweise als Universitätswissenschaft in zahlreichen europäischen Universitäten;
  • Entwicklung der Kriminaltaktik, u.a. durch den Dresdener Landgerichtsdirektor Dr. Albert WEINGART
  • Bildung kriminalwissenschaftlicher Institute und kriminaltechnischer Laboratorien, Aufbau des Erkennungsdienstes
  • zunehmende Spezialisierung der Untersuchungsmethodik für spezielle Straftatenarten (Tötungs- und Sexualdelikte, Brandstiftungen, etc.) unter gleichzeitiger Weiterentwicklung der Kriminalpsychologie
  • in Sachsen ab 1912 flächendeckend Kriminaldienststellen
  • zunehmende internationale Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung, z.B. internationaler Polizeikongress 1914 in Monaco zur Vereinfachung der internationalen Fahndung und zur weltweiten Einführung der Daktyloskopie
  • viele hoffnungsvolle Entwicklungen wurden durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges zunichte gemacht

7. Die Zeit nach 1918 (Weimarer Republik)

  • anwachsende Kriminalität und neue Erscheinungsformen nach dem 1. Weltkrieg (Massenelend und Inflation begünstigten Wirtschaftskriminalität, Geldfälschung, Spekulation, Prostitution, Suchtkriminalität), zunehmend „Berufsverbrecher“ und Serienstraftaten sowie zahlreiche Waffendelikte, Ringvereine
  • Hinwendung der Polizei „vom Instrument des Staates zum Diener des Volkes“ (Carl SEVERING, preußischer Innenminister)
  • Bildung von Morduntersuchungskommissionen und Branduntersuchungskommissionen
  • legendär wird der Chef der Berliner Mordkommissionen, Ernst GENNAT  (Regina Stürickow: "Der Kommissar vom Alexanderplatz")
  • neue wissenschaftliche Ansätze beim Straftatenvergleich (modus operandi, Perseveranzhypothese)
  • 1918 Abdankung des Kaisers, Konfrontation zwischen kaiserlichen Offizieren und republikanischen Kriminalisten; Kommissar konnte bis dahin nur werden, wer 7 Jahre als Offizier gedient hatte (Franz von Schmidt: "Vorgeführt erscheint")
  • 1920 Lehrauftrag für Kriminalistische Hilfswissenschaften an der Universität Berlin an Hans SCHNEIKERT , Leiter des Erkennungsdienstes der Polizei Berlin, insbes. für Kriminalpsychologie und pol. Erkennungsdienst
  • 1922 Reichskriminalpolizeigesetz vom 21.07.1922
  • 1923 Bildung der Internationalen kriminalpolizeilichen Kommission IKPK als ständige Einrichtung für die internationale Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung
  • Entwicklung der kriminalistischen Ballistik sowie neuer chemischer Analyseverfahren (Spektralanalyse, Lumineszenzanalyse)
  • 1925 Neuorganisation der Kripo in Preußen (LKA in Berlin, Kriminalämter, -abteilungen und  - posten
  • 1930 Lehrauftrag für Kriminalistik und strafrechtliche Hilfswissenschaften an der Universität Berlin an Max HAGEMANN, Leiter der Kriminalpolizei beim PP Berlin (später erster Präsident des BKA
  • aufsehenerregende Kriminalfälle wie Sass, Opitz, Grossmann

8. Kriminalistik im 3. Reich

  • Staatsaufbau und Repression unterliegen der nationalsozialistischen Ideologie, Säuberung der Polizei von republikanischen Beamten
  • Verbrechensbekämpfung wird zentralisiert, ab Januar 1935 Reichskriminalpolizeiamt unter Arthur NEBE
  • zunehmende Überwachung von Berufs- und Gewohnheitsverbrechern, aber auch politischer Gegner, ab 1935 erste Konzentrationslager („Schutzhaftlager“), z.B. Oranienburg!
  • Juni 1936 Zusammenführung von Partei- und Staatsämtern, Heinrich HIMMLER  wird „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei“ (später in Nürnberg hingerichtet),
  • Chef der Kripo wird Reichskriminaldirektor Artur NEBE
  • 1937 Einführung einer weiblichen Kriminalpolizei
  • 1939 Bildung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) unter Reinhard HEYDRICH durch Zusammenlegung von Sicherheitsdienst (SD), Geheimer Staatspolizei (GeStaPo) und Kripo, untersteht direkt der SS (so wird z.B. NEBE SS- Obergruppenführer); verantwortlich auch für die Konzentrationslager (H. wird später als „Reichsprotektor für Böhmen und Mähren“ in Prag durch Widerstandskämpfer ermordet); neuer Chef des RSHA wird Ernst KALTENBRUNNER
  • innere Sicherheit wird zum politischen Machtinstrument (Fälle Lüdke, Ogorzow)
  • das Verbrechen selbst wird zum Machtinstrument, es geschehen unvorstellbare Verbrechen im Namen der „Vollstreckung einer neuen Ordnung“, aus politischem Fanatismus;
  • der Faschismus ist die offen terroristische Diktatur, für die keine Gesetze mehr gelten

9. Die Zeit nach 1945

  • durch 2. Weltkrieg immense Verluste an Praktikern, Wissenschaftlern und technischen Einrichtungen (Kriegsverluste und Reparationen), völliger Neuaufbau in den beiden entstehenden deutschen Staaten
  • Konferenzen der vier Siegermächte in Jalta und Potsdam: Polizei soll entnazifiziert, entmilitarisiert und demokratisiert werden
  • alliierter Kontrollrat übt zunächst Polizeibefugnisse aus, sehr bald Bildung von Polizeistrukturen in den vier Besatzungszonen durch „unbelastete“Beamte
  • 1949 Bildung der BRD (Grundgesetz) und DDR (Verfassung)

10. Die Bundesrepublik Deutschland

  • Bildung von Länderkriminalämtern der Zonen, aus einem dieser Ämter wurde 1951 das BKA gebildet;  föderaler Aufbau der Polizei mit Landeskriminalämtern (Spurenuntersuchung, Gutachtenerstattung, krim. Forschung) und landeseigenen Ausbildungseinrichtungen;
  • PFA in Münster-Hiltrup; Lehrstühle für Kriminalistik an den jur. Fakultäten Frankfurt a.M., Freiburg i.Br., Mainz
  • 1952 Aufnahme in die IKPO

11. Die Deutsche Demokratische Republik

  • Entnazifizierung der Polizei, Zentralistischer Aufbau mit militärischen Strukturen, Führung durch die SED, ideologische Färbung der kriminalistischen Wissenschaften als Mittel im Klassenkampf;
  • PP und Inspektionen in Berlin,  BdVP und Kreisämter, Reviere und Gruppenposten  in den 15 Bezirken
  • Bildung eines Kriminaltechnischen Institutes der Deutschen Volkspolizei als zentrale Forschungs-, Expertisen- und Lehrinstitution,
  • Bildung von KTU-Stellen in den Bezirken sowie einer Fachschule für Kriminalistik in Aschersleben und Instituten für Kriminalistik an den jur. Fakultäten der Universitäten Berlin, Halle, Leipzig und Jena;
  • ab 1968 eigenständige Sektion Kriminalistik an der Humboldt- Universität Berlin, "Wissenschaftlicher Rat für Kriminalistik" aus Praktikern und Wissenschaftlern
  • rasanter Fortschritt der wissenschaftlich-technischen Forschung (z.B. DNA)
  • umfassender Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung (Auskunfts- und Fahndungssysteme,    automatisierte Identifizierungssysteme, rechnergestützte Vorgangsbeabeitung